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Gemeinsam abhängen 

Über den Teller hinweg, in dem er mit seinem Löffel die Brühe in Unruhe brachte, betrachtete er ihr faltiges Gesicht. Langsam und bedächtig nahm er Löffel um Löffel von der lauwarmen Lacke zu sich, die die Alte als Suppe bezeichnete. Eben diese Alte schöpfte eben diese Suppe aus ihrem Teller und goss sie sich, mit einer beinahe religiösen Beständigkeit und Ruhe, in den Schädel. Auf dem Tisch lagen ihre Zähne, die sie zum Suppenessen nicht brauchte. Auch er hatte sich das Gebiss herausgenommen und nun grinsten ihn viele weiße Beißer hämisch an. Er würde die Alte loswerden. Irgendwie. Das Essen zu vergiften kam nicht in Frage, da sie diejenige war, die kochte. Auch in einem Restaurant wäre ein Giftmord nicht möglich gewesen, da er keinen Zugang zu Stoffen hatte, die schnell genug wirken würden um jeglichen Reanimationsversuch hoffnungslos zu machen. Zu Hause konnte er sie auch nicht auf diese Art umbringen, denn sie ließ das Essen vom Herd aus, auf dem Weg zum Tisch, nicht aus den Augen. Würde er die Zutaten in roher Form vergiften, würde er damit auch riskieren sich selbst mit zu meucheln. Das wollte er, wenn möglich, vermeiden.

„Sie ist dir eh nicht zu heiß?“
„Nein. Gut. Ganz gut.“
„Soll ich dir noch ein Glas Wasser dazu schütten? Du schwitzt! Die Suppe ist dir zu heiß!“
Sie stand vom Tisch auf und ging zum Waschbecken, kam mit einem Glas zurück und leerte es in seinen Teller.
„Danke“.
Er nahm den Löffel, tunkte ihn in die verwässerte Brühe und führte die geschmacklose, kalte Suppe zum Mund.
„Dein Latz ist verrutscht.“ Sie griff ihm zum Hals.

Während sie sich über ihn beugte konnte er die Goldkette an ihrem Hals baumeln sehen, die er ihr vor jetzt beinahe fünfzig Jahren geschenkt hatte, als er sie zum ersten Mal zum Tanz ausgeführt hatte. Die Kette hatte er sich vom Lohn abgespart um sie zu beeindrucken. Sie hatte, wie er, früh den Partner verloren und musste sich allein um ihre Kinder kümmern. Da kann man doch, wenn man schon im selben Dorf wohnt, auch gleich etwas mit ihr anfangen. Er hatte sie drei Mal fragen müssen, bevor sie endlich einwilligte. Witwenehre? Eingebildete Scheue? Edle Zurückhaltung? Freude an seiner Erniedrigung? Keine Ahnung.

Wenn er jetzt zu griff und fest an dem robusten Material zog, dann könnte er sie überwältigen. Er war zwar nicht stark, aber immer noch stark genug um sie zu überraschen und auf den Boden zu werfen. Er konnte sich gut vorstellen, wie ihre Augen, panikgeweitet und blutunterlaufen zu ihm aufblicken würden und noch mit dem letzten Atemzug würde sie nicht glauben können, was er tat. Ihre verschrumpelte furchige Hand, die nach der seinen greifen würde und dann, wie in den Filmen, wie in den Serien, die sie am Abend immer gemeinsam sahen, langsam, noch einmal auf seinen Arm klopfen und dann zu Boden sinken würde. Auch diese Fantasie hatte er schon zigmal durchgespielt und er würde sich immer noch nicht vor der Polizei rechtfertigen können.

Sie hatte seinen Latz zurechtgerückt und stellte ihm wortlos eine Schüssel mit Gemüse auf den Tisch, während sie sich aus einem Topf eine gekochte Wurst auf den Teller legte und damit wieder auf ihren Platz wackelte. Er durfte seit der Operation keine Wurst mehr. Das wusste sie sehr gut. Seither gab es dreimal die Woche Wurst in allen Variationen. Kochwurst, Krainerwurst, Currywurst, Brühwurst, Bratwurst, Blutwurst, geräuchert, getrocknet, gegessen, genossen. Er saß daneben und speichelte aus dem zahnlosen Mund in die Gemüseschüssel, während sie ihre grinsenden Zähne in den Mund schob und die Wurst hinterher.

Am Abend saßen sie, wie immer vor dem Fernseher.
„Holst du mir bitte ein Bier aus dem Keller?“
Er konnte die Treppen nicht mehr auf und absteigen. Seit der Operation konnte er nur noch mit einer Gehhilfe durch die Wohnung schlurfen.
„Bier hol ich dir sicher keines! Es ist schon viel zu spät und du sollst so spät keinen Alkohol mehr trinken.“
„Du hast ja recht.“
Stumm saßen sie, während die Kiste kundtat. Es zuckte um ihren Mund.
„Aber die Idee ist gut! Ich wird‘ mir ein Glas Wein genehmigen“.
Sie stand auf; stapfte zur Tür. Er sah in die Glotze. Er glotzte.

Im Fernsehen fiel ein Schuss; Stille; Rumpeln; ein Schrei.
Er sah auf. Das war nicht aus der Kiste gekommen. Er kämpfte sich aus dem Sofa und hing in der Gehhilfe, die er mit in den Gang und an die Treppe schob.
Sie war gestürzt! Sie war gefallen! Sie war bewusstlos! Sie war tot?

Der Alte stand am oberen Ende der Treppe. Er stand für einen Augenblick einfach nur da, stand und starrte.

Er hätte jetzt zurück zum Sofa schlürfen können, um den Krimi fertig anzusehen; vielleicht war ja die Bienenzüchterin die Mörderin, oder der leprakranke Küchenjunge mit der Augenklappe, oder doch der Butler.
Er hätte jetzt zurück in die Küche schlürfen können, um die Wurst fertig zu essen; vielleicht war ja noch ein bisschen davon übrig.
Er hätte jetzt zurück ins Wohnzimmer schlürfen können, den Fernseher ausschalten, um sich ins Bett zu legen und diesen Tag zu vergessen. Er merkte, dass er schön langsam begann mehr und mehr Tage zu vergessen.
Er hätte sich ihr nachstürzen können, um dieses Leben, das ihm nicht mehr Interesse abrang als der abendliche Krimi, zu beenden; zu fallen, zu brechen, zu sterben.
Er hätte die Rettung rufen können, die Nachbarn, um Hilfe, zu Gott, zum Teufel.
Er hätte…
Er hätte…
Er hätte…

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