Über erste Sätze: Warum der erste Eindruck auch bei Büchern zählt.
- alrasumofsky
- 21. Feb. 2021
- 5 Min. Lesezeit
In letzter Zeit bin ich wieder sehr in die Arbeit an meinem nächsten Buch vertieft. Bei dieser aktiven Auseinandersetzung mit Literatur und mit dem Schreibprozess stoße ich auch in meiner Rolle als Leser immer wieder auf neue Erkenntnisse. Eine aktuelle Erkenntnis ist die Wichtigkeit erster Sätze in Büchern. Wie oft stöbern wir durch Buchläden und werden von einem ersten Satz verzaubert? Wir nehmen ein Buch, schlagen es auf und in diesem Moment entscheiden wir uns dafür, es zu lesen.
Ein Beispiel vorweg: Wir alle kennen die Märchenformel: „Es war einmal vor langer, langer Zeit“, die uns sofort auf eine Reise mitnimmt. Wir hören diese Formel, diese Beschwörung und befinden wir uns in einer anderen Welt. Zuerst mal zeitlich. Selbst wenn die Geschichte in „unserer“ Welt stattgefunden haben soll, und nicht in Hogwarts oder in Mittelerde, sind wir durch die „lange, lange Zeit“, die zwischen der Erzählzeit des Märchens und unserer Realität liegt, von den Ereignissen entfernt. Dann auch was die Realität angeht. Wer sagt uns, dass es damals nicht wirklich die magischen Wesen gab, die in den Märchen vorkommen? Diese Anfangsformel, die die Welt der Märchen heraufbeschwört, ist genauso wichtig für unser Eintauche in die Geschichte, wie alles was danach kommt. Vielleicht sogar noch wichtiger.
Die Wichtigkeit der ersten Sätze ist mir konkret bei dem ersten Satz von Gabriel Garcia Marquez Buch „Hundert Jahre Einsamkeit“ aufgefallen. Das Buch beginnt mit diesem genialen Satz:
"Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater in mitnahm, um das Eis kennenzulernen."
Dieser Satz erfüllt so viele Funktionen auf einmal!
Uns wird durch den militärischen Rang der Figur („Oberst“) und durch den Hinweis auf das Erschießungskommando sofort ein großer spannender Konflikt angeteasert.
Eine wichtige Beziehung zum Vater der Figur wird angedeutet.
Das Alltägliche (Eis) wird hier als etwas Besonderes verkauft und wir fragen uns sofort: „Warum? Was ist an Eis so spannend? Warum muss man Eis kennenlernen?“
Wir sind durch den Namen der Figur sofort an einem Ort irgendwo in Südamerika.
Die Technik des Zeitsprungs, die dann im Buch immer wieder vorkommt, wird gleich eingeführt und später, wenn der nächste Zeitsprung geschieht, sind wir dann nicht davon überrascht.
Das sind einige der Dinge, die mir durch den Kopf geschossen sind, als ich diesen ersten Satz in diesem magischen Buch gelesen habe. Nach diesem Satz wurde mir wieder bewusst, wie wichtig der Beginn einer Geschichte eigentlich ist.
Ich verlinke euch zu den einzelnen Absätzen auch immer die Bücher, falls ihr neugierig geworden seid:
Herman Melvilles Roman Moby Dick beginnt mit den berühmten Worten: „Call me Ishmael.“
Die Geschichte vom großen weißen Wal, der für Kapitän Ahab zum Verhängnis wird, wird aus der Sicht des Protagonisten Ishmael erzählt. Er heuert im Lauf der Geschichte auf dem Schiff des Kapitäns an und erlebt aus erster Hand, was die Besessenheit von einem Ziel mit einem Mann machen kann. Melville geht sofort mit dem/ der LeserIn auf Tuchfühlung. Man wird angesprungen und befindet sich in einem one-on-one mit dem Erzähler. Wenn man dann schon mal vage etwas von der Geschichte gehört hat, dann bekommt man auch gleich den Eindruck, man befände sich in einer Spelunke irgendwo an einem Hafen und lausche in einem Hinterzimmer dem Seemannsgarn eines Mannes mit ledriger Haut und einer Augenklappe. Es ist ein rätselhafter Beginn und genau dieses Rätsel wollen wir im Laufe der Geschichte mit Ishmael lösen.
Lolita von Vladimir Nabokov zaubert im ersten Absatz ein ganz anderes Anfangsbild vor unsere Augen. Hier schummle ich ein bisschen (… ich gebe es zu) und rede nicht nur über den ersten Satz, sondern gleich über den ganzen Absatz, der einfach zu bekannt und zusammenhängend ist, um ihn hier zu kürzen. Das Buch beginnt wie folgt:
“Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue
taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.
She was Lo, plain Lo, in the morning, standing four feet ten in one sock. She was Lola
in slacks. She was Dolly at school. She was Dolores on the dotted line. But in my arms
she was always Lolita.”
Wie keinem anderen gelingt Nabokov hier die sofortige Verknüpfung der geistigen Aktivität des Lesens mit der körperlichen Sensation der Sprache. Die Beschreibung der kleinen Reise, die die Zunge unternimmt, erhebt Lolita von einem abstrakten Wesen, von dem wir schon mal irgendwo mal gehört haben, zu einem Objekt der Begierde; zu einer körperlichen Sensation, die wir selbst schon mit unserer Zunge gespürt haben (zumindest dem Namen nach). Wir sind auch sofort mit der Figur Humbert Humbert vertraut, die im Laufe der Geschichte als zwielichtiger Erzähler auftritt und den wir gegen unsere besseren Instinkte zu mögen beginnen. Wie kann für eine(n) LeserIn ein Mann, der solche Sätze von sich gibt, böse sein? Das Verlangen, das Humbert Humbert im Lauf des Romans immer wieder begleiten wird, überträgt sich schon beinahe auf die Leserschaft und das alles schafft Nabokov bereits mit dem ersten Absatz.
Nabokov schafft es außerdem, uns die verschiedenen Sichtweisen auf Lolita gleich hier zu zeigen. Wie organisch entwickelt er diese Betrachtung aus dem körperlichen Anfang des Absatzes heraus! Lo, die erste Silbe des Namens, ein Spitzname, der im häuslichen Umfeld verwendet wird, in das sich Humbert Humbert einschleichen kann. Lola, eine weitere Abwandlung für Lolitas Alltag unter Freunden und Bekannten. Dolly, eine Bezeichnung für die Freunde in der Schule und dann noch die persönlichste aller Varianten für den Erzähler: Lolita. Diese sinnliche Abhandlung über den Namen stellen eines der zentralen Themen des Romans vor: die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Figur Lolita, die sich durch die Geschichte ziehen. Für Humbert Humbert ist Lolita nicht das was die Gesellschaft in ihr sieht, sondern seine Geliebte.
(Trigger Warning/ Spoiler: Lolita ist am Beginn ihrer Liebesaffäre mit Humbert gerade mal zwölf Jahre alt!!!)
Dieser kurzen Liste wären noch unendlich viele erste Sätze hinzuzufügen. Doch ich will es hierbei belassen und nur noch ein paar anführen. Falls ihr auch einen wunderbaren ersten Satz kennt, oder euch einer für den Beginn eurer nächsten Geschichte im Kopf herumschwirrt, schreibt ihn doch in die Kommentare
Charles Dickens: A Tale of Two Cities: „It was the best of times, it was the worst of times.“
Franz Kafka: Die Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Günter Grass: Der Butt: „Ilsebill salzte nach.“
Leo Tolstoi: Anna Karenina: „Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich."
Douglas Adams: The Restaurant at the End of the Universe: “The story so far: in the beginning, the universe was created. This has made a lot of people very angry and been widely regarded as a bad move.”








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